Stadt als These: Der Sandkastenmodus des Burning Mans
- Leonie Maya Gantenbein

- 10. Sept.
- 5 Min. Lesezeit
Als Philosophin lese ich Black Rock City als Gegenwartsdiagnose: eine temporäre Stadt, die ihre eigenen Infrastrukturen, Rituale und Technologien hervorbringt und sie zugleich als offene These in die Welt entlässt.

Stadt auf Strom
Umrahmt von Bergketten liegt die Wüste des ausgetrockneten Salzsees Lahontan – auf dem Territorium der Northern Paiute people. Unter den weitreichenden Flächen der darauf für eine Woche erbauten Pop-Up-City "Black Rock City" liegt ein komplexes Stromnetz, das in die Wüstenoberfläche eingewoben ist. Dabei handelt es sich nicht nur um ein paar Verlängerungskabel, sondern um ein regelrechtes Labyrinth aus Batterien, Sonnenkollektoren und Generatoren, die Tag und Nacht die grundlegende Infrastruktur einer temporären Stadt mit 80.000 Einwohnern mit Strom versorgen. Diese komplexe Stromversorgung ist ein sich ständig weiterentwickelndes Netzwerk, in dem erneuerbare Energien, alternative Kraftstoffe und modernste Batterietechnologie fossile Brennstoffe und herkömmliche Generatoren verdrängen. "Burner" (so nennen sich die Bewohner von Black Rock City) waren schon immer Vorreiter bei kulturellen, technologischen und logistischen Innovationen - wobei einige dieser Innovationen ihren Weg in die Welt finden, um dort neue Lösungsansätze für ähnliche Problemstellungen zu bieten.

Hardware statt Simulation
In einer Zeit, in der immer mehr nur noch technologisch simuliert wird, lohnt es sich, mit echter Hardware in die Wüste hinauszugehen. In der Black-Rock-Wüste verwandelt sich Technologie - sie wird interaktiv, lebendig und zur Kunst. Ob Sextant Tesla Coils, die umgebaute Boeing 747, KI-Experimente oder andere interaktive Installationen: Hier wird Technologie mit staubigen Händen greifbar. Die „The Moonlight Library“ war dieses Jahr eine ruinengleich inszenierte Bibliothek aus echten Büchern, in der einzelne Bände beim Berühren ihrer Buchrücken leise Geschichten abspielen. Die Audio-Erzählungen stammen von Besucher*innen der Vorgänger-Installation „The Prairie of Possibilities“ (2022/23). Unsichtbar integrierte kapazitive Sensoren, Mikrocontroller und ein lokales Rechnernetz steuern Stimmen, Licht und Sound. Eine Technologie, die auf mich bewusst archaisch und selbstverständlich wirkte.

Innovation und Chaos, Religion und Technologie, Künstler und KI verschmelzen und zeigen Projekte auf, welche die Dualitäten und Paradigmen von morgen prägen.
Poesie durch KI-Interaktion
Ein schön aufbereiteter Fotokasten knipste dieses Jahr ein Foto von meinem Playa-Outfit im Central Camp. Mein Prompt: Ein schwarzes Bikinioberteil, Staubbrille, Schmuck mit Anhängern und temporäre Tattoos auf dem Arm. Daraufhin bekomme ich ein Fünfzeiler:
"A bright afternoon cast its light. On shades where cool style takes flight. With ink on their arm. Jewels add to the charm. And confidence dressed in black's might."
« A vintage booth that translates your dusty presence into printed poetry... 24/7. », so der Verse-O-Matic: Self-Portrait Reimagined.

Daten werden zu Bildern, Bilder zu Gesprächen
Burning Stories ist ein Science Art Projekt, das seit 2018 auf Transformationsfestivals wie Burning Man reale Erzählungen sammelt und sie mit KI aufbereitet, damit man kollektive Muster sehen und fühlen kann. Die Basis sind 490 verschriftlichte Geschichten, zusätzlich eine indexierte Bibliothek mit 290 Forschungsartikeln und 60 Podcasts aus dem Burning-Man-Kosmos. Aus den Stories entstehen Einbettungen, dann folgen UMAP, HDBSCAN, TF-IDF und LLMs für sinnvolle Clusterlabels. Jede Story wird ausserdem mit DALL·E in ein KI-Bild übersetzt, das der Maler Luca Delcado weiter mit Öl überarbeitet. So entsteht eine bewusst hybride Human-AI-Human Praxis. Parallel öffnet die Plattform Burner AI eine interaktive Karte samt Chat. Man kann Datamuster erkunden und selbst eine Story beisteuern. In Black Rock City 2025 wird das Projekt im Podcast "AI in Art in Black Rock City" vorgestellt. Das Team um Jukka-Pekka Heikkilae, Kiana Kiser und Michael Zeltner beschreibt, wie Burner AI Wissen aus Community-Stories, Forschung und Podcasts zugreifbar macht und vor Ort ins Gespräch bringt. So trifft Forschung auf Kunst und Community: Daten werden zu Bildern, Bilder zu Gesprächen, und neue Gespräche speisen das lebendige Archiv wieder zurück.
Weitreichende Fürsorge
In Black Rock City hat sich Peer Support längst professionalisiert: Das Zendo Project bietet seit 2012 ruhige Räume und geschulte Freiwillige, die schwierige psychoaktive Erlebnisse begleiten. Das Zendo betreibt vor Ort Sanctuary als Rückzugsort für Überforderte und das Crisis Intervention Team (CIT) des Emergency Services Departments triagiert und vernetzt Hilfe – eine Art Playbook, das BRC als Reallabor erprobt und das an anderen Festivals als Best Practice für harm reduction dient.
Shelter für die ganze Welt
Das harsche Klima auf dem ehemaligen Salzsee Lahontan (heute eine Salzwüste mit alkalischem Staub) abverlangte den Black Rock Citizen seit die Pop-Up-City nach Nevada in die Black Rock Wüste verlagert wurde, Kreativität und neue Lösungen. Dadurch entstanden isolierende und schnell aufbaubare Zelte und Shelter, wie die Hexayurte und der SHIFTPOD, die sich zu eigenen Brands entwickelten. Seither werden sie stetig durch noch robustere und nachhaltigere Modelle weiterentwickelt und als robuste Notunterkünfte in beispielsweise Erdbebengebieten oder bei Not- und Flüchtlingshilfen weltweit eingesetzt. Unsere Hexayurte überstand dieses Jahr ihr drittes Burning Man, zwei davon (2023, 2025) mit grossen Gewittern und Sandstürmen.

Energie als Lernkurve
Teslas mit Dieselgeneratoren parkierten auch dieses Jahr wieder in der Wüste und tagsüber brummen Generatoren, welche die zunehmenden E-Bikes aufladen. Unter der Net Zero BRC Initiative testet die Community Übergänge weg von fossilen Energien: Batterien in temporären Netzen, erneuerbare Kraftstoffe wie R99, Solar-Infrastruktur und solarbetriebene Lichttürme - mit dem Anspruch, Lösungen für andere Grossevents und temporäre Städte zu liefern. Regionale Events bieten aus sich heraus ökologische und technologische Workshops und Diskussionsplattformen für erneuerbare Energie an.
Das Renewables for Artists Team (RAFT) begleitet Kunstwerke und Camps beim Umstieg auf Solar/Microgrids und exportiert dieses Wissen über die Playa hinaus. Aus dem Ökosystem heraus entstand Black Rock Solar, das u. a. eine Anlage installierte, die heute über 30% des Energiebedarfs der Schulen in Gerlach deckt, ein Beispiel dafür, wie Playa-Piloten in die Region wirken. Parallel dient Fly Ranch als ganzjähriges Testareal: Mit der Land Art Generator Initiative (LAGI) entstehen Prototypen, die Kunst mit Infrastruktur koppeln - Lösungen für Strom, Wasser, Nahrung, Shelter und Kreislauf von Abfällen.
Wie gut bereits Solarkollektoren in Black Rock City funktionieren, stellt man fest, wenn grosse Artcars mit relativ kleinen Kollektoren still an einem vorbeisegeln. Auch wenn die Sonne bei hohen Temperaturen herunter brennt, wirkt es auf mich jedes Mal innovativ.
Die Black Rock Wüste wird durch das Burning Man zum Atelier, zur Bühne, zur Stadt der Möglichkeiten. Auch ohne grosses Talent oder ohne grosse Ressourcen oder Ausrüstung nennt man sich "Künstler" – man erschafft einfach, schenkt und bringt hervor.
Menschen schmieden Rüstung und Schmuck, entwerfen Mode, bauen Skulpturen, Roboter und Fahrzeuge und programmieren intelligente technologische KI-Interaktionen. Hier sind Kunst und Innovation spielerisch, unmittelbar - zugänglich.

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